Platzwunden, Verbrennungen und Quetschungen
Der erste Eintrag geschah am 29. Mai 1954 um 12.30 Uhr. Dem Mitarbeiter einer Elmshorner Firma fiel ein „Gegengewicht auf den rechten Fuß“. Es entstand eine „Fleischwunde am re. Fußrücken“. Wie konnte dies passieren? Das Objekt des Monats September, das Unfall-Verbandbuch der Mechanischen Weberei in Elmshorn, dokumentiert sämtliche 325 Betriebsunfälle, die in knapp 12 Jahren bei einer sechs-Tage Woche in der Fabrik geschahen. Eine überraschend geringe Zahl, betrachtet man die Missstände bei den Arbeitsbedingungen in der Textilindustrie. In öffentlichen Institutionen und Betrieben muss ein Verbandbuch geführt werden, das jede Art von Verletzung und Erste-Hilfe-Maßnahme dokumentiert. Der Hintergrund ist in erster Linie von versicherungsrechtlicher Art. Darüber hinaus lassen sich Unfallschwerpunkte erkennen, bzw. Maßnahmen zur Vermeidung von Unfällen einleiten.
Neben der laufenden Nummer und dem Unfalltag wird zunächst der Name des Verletzten im Buch verzeichnet. Für die Unfallforschung wird es im Weiteren interessant: Die Felder „Angabe, worauf die Verletzung oder Erkrankung zurückgeführt wird“ und „Art der Verletzung oder Erkrankung“ geben oftmals Aufschluss, bei welchen Verrichtungen die Unfälle passierten. In dem bereits geschilderten Unfall lässt sich die Tätigkeit nur vermuten – Gewissheit bekommt der Leser dieses Mal leider nicht. So abwechslungsreich die Arbeit in der Weberei ist, so unterschiedlich sind auch die Unfallursachen. Häufig sind Quetschungen, Schnitt- und Platzwunden, Augenverletzungen oder Verbrennungen das Ergebnis des Unfalls. In den meisten Fällen musste die Verletzung durch einen Arzt behandelt werden. In nicht wenigen Fällen fanden auch Überweisungen zum Unfallarzt des Elmshorner Krankenhauses statt. Bei kleineren Blessuren griffen die Mitarbeiter auf den Erste-Hilfe-Kasten der Fabrik zurück. Kleine Pflaster- und Schutzverbände sowie Wundbehandlungen konnten meist vor Ort geleistet werden. Auch dies wird im Buch vermerkt.
Die erste Fabrik Elmshorns
Die Geschichte der ältesten Elmshorner Textilfabrik lässt sich bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts zurückverfolgen. 1855 wurde die Baumwollweberei unter dem Namen „Elmshorner Stoutsfabrik“ gegründet. Kurze Zeit später investierten die Betreiber in eine Dampfmaschine. Die Elmshorner Weberei war bis nach der Jahrhundertwende einer der größten Industriebetriebe Elmshorns. 1906 erfolgte die letzte Umbenennung in „Mechanische Weberei, Bleicherei und Färberei Elmshorn GmbH“. Der Betrieb spezialisierte sich auf die Herstellung von Baumwollstoffen für Kinder- und Berufsbekleidung sowie auf Inlettproduktion. Um 1914 waren ca. 200 Webstühle in Betrieb. In den Jahren von 1925 bis zur Weltwirtschaftskrise erfuhr die Weberei eine Phase der Hochkonjunktur. Darauf folgten wirtschaftliche Depression, Entlassungen, bzw. Kurzarbeit. Die Herrschaft des Nationalsozialismus und der britische Bombenangriff im August 1943 auf Elmshorn beeinträchtigten den Betrieb erneut und verlangten weitere große Opfer. Mit der Währungsreform 1948 steigerte sich die Produktion wieder beträchtlich. Webautomaten führten zu zunehmenden Rationalisierungsprozessen und Produktivitätssteigerung. Das Ende der Weberei brachte dann die Globalisierung in den 1970er Jahren mit sich. Die Firma konnte nicht mehr der Konkurrenz aus den „Billig-Lohn-Ländern“ standhalten und musste als ältester Industriebetrieb Elmshorns die Produktion im Juni 1982 beenden.
Gefährlicher Arbeitsplatz Textilindustrie
Seit Anfang 1990 wurden immer mehr Textilarbeitsplätze aus den hochentwickelten Ländern in die Länder Asiens, Afrikas und Lateinamerikas verlegt. Um 2000 fand in den globalen Textilzentren China und Bangladesch ein regelrechter Boom statt. Insgesamt sind dort mittlerweile ca. 27 Millionen Menschen im Bereich der Textilproduktion tätig. Junge Frauen im Alter zwischen 16 und 25 Jahren machen dabei einen Anteil von über 80 Prozent aus.
Die Arbeitsbedingungen sind dieselben geblieben. Auch in Elmshorn war der Anteil der Frauen bei der Belegschaft sehr hoch. Lange und körperlich anspruchsvolle Arbeitstage, nicht vorhandene Entlüftungs- und Befeuchtungsanlagen, dauernder Maschinenlärm sowie starke Gerüche von Öl und Leim sowie eine hohe Belastung durch Baumwollstaub erschwerten die Arbeit. Die Webstühle verursachten ein furchtbares Getöse. Lärmschutz für die ArbeiterInnen war bis in die 1960er Jahre unbekannt, bzw. nur selten genutzt. Während der Arbeit konnten sich die WeberInnen nur durch Zeichensprache oder Mundablesen verständigen. Schwerhörigkeit, Verstümmelung, Bandscheibenschäden, Unterleibsbeschwerden aufgrund ungünstiger Arbeitshaltungen, Gesichtsverletzungen und Augenverletzungen, beispielsweise durch das Herausfliegen eines Schützen aus dem Fach der Webmaschine, waren das Ergebnis schlechter Sicherheitsvorkehrungen. Ein Arbeiter der Mechanischen Weberei Elmshorn zur Arbeitssicherheit: „Das war ein unheimliches Gefühl, wenn man durch den Websaal ging. Alle hatten davor Angst, daß ihnen etwas bei den handbetriebenen Webstühlen an den Kopf fliegt.“ Trotz Umgang mit chemischen Mitteln sind im Unfall-Verbandbuch kaum Verletzungen wie bspw. Ätzungen verzeichnet. 1956 verätzte sich ein Arbeiter die Hornhaut am linken Auge. Die Behandlung übernahm der Arzt.
Auch heute noch führen fehlende oder desaströse Sicherheitsstandards in der Textilindustrie in den sogenannten „Billig-Lohn-Ländern“ immer wieder zu den vielen kleinen bis großen Unfällen. Regelmäßig wird über die Arbeitsbedingungen und ihre Auswirkung in der Presse berichtet. Das Unfall-Verbandbuch der Mechanischen Weberei gibt einen Einblick in den Alltag der TextilarbeiterInnen und welchen Gefahren sie ausgesetzt waren – lange nach den Anfängen der Industriellen Revolution. Der letzte Eintrag ereignete sich übrigens am 23. Februar 1966. Die Mitarbeiterin der Weberei geriet, vermutlich mit dem Fahrrad, um 14.30 Uhr „durch den Sturm in ein Schlagloch“. Der Unfallarzt behandelte: „Verstauchung, Zerrung, Bluterguß des linken Beines“.
Inventarnummer: G 7312.M.030
Datierung: 1954
Material: Papier
Maße: Breite: 21 cm, Länge: 29,7 cm
Hersteller: Textil- und Berufsgenossenschaft, Augsburg
Standort: Industriemuseum Elmshorn | Dauerleihgabe Stadtarchiv Elmshorn